Eine mutige und richtige Entscheidung: Der Bundesausschuß schließt Potenzmittel aus

Der Bundesausschuß schließt Potenzmittel aus

Der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen hat in seiner Sitzung am 3. August 1998 die Verordnung von Potenzmitteln zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen ausgeschlossen. Nach Genehmigung durch den Bundesgesundheitsminister und Veröffentlichung im Bundesanzeiger ist dieser Beschluß zwischenzeitlich in Kraft getreten. Aufgrund dieser Beschlußfassung dürfen Arzneimittel zur Behandlung der erektilen Dysfunktion und Mittel, die der Anreizung und Steigerung der sexuellen Potenz dienen, nicht zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen verordnet werden. Begründet wurde diese Entscheidung zum einen damit, daß die Ermöglichung einer Befriedigung des Geschlechtstriebs als privat zu verantwortender Lebensbereich nicht zu den Aufgaben einer solidarisch finanzierten Krankenversicherung zählt, und zum anderen mit der Unmöglichkeit, im Zusammenhang mit der Befriedigung sexueller Bedürfnisse das für die gesetzliche Krankenversicherung maßgebliche Wirtschaftlichkeitsgebot zu konkretisieren.

Mit dieser Entscheidung hat der Bundesausschuß eine auch vor dem Hintergrund der systemgefährdenden Ausgabendynamik richtige und angesichts der bisherigen sozialgerichtlichen Rechtsprechung gleichzeitig mutige Entscheidung getroffen. Die nicht wenigen Kritiker dieser Entscheidung haben offensichtlich durchweg die völlig neue versorgungspolitische Dimension der Viagra-Problematik ignoriert.

Neue versorgungspolitische Dimension

Bei der Verordnung und dem „Konsum“ von Viagra handelt es sich in der Tat um ein für die gesetzliche Krankenversicherung vollständig neues Phänomen, das nicht mit den Kriterien des Sozialgesetzbuches umschrieben oder gar erfaßt werden kann. Vor Viagra versagt das Leistungsrecht der GKV, und Viagra wurde wohl gerade deswegen der Zugang in den Leistungsumfang der GKV versagt. Im Unterschied zu jeder anderen bisherigen Form der Arzneimittel-Therapie zur Krankenbehandlung ist der „Therapieerfolg“ des Viagra-Konsums nämlich nicht anhand objektiver oder auch nur subjektiver Gesundungsparameter verifizierbar, sondern ist ausschließlich abhängig von dem individuellen Bedürfnis des Mannes zur Befriedigung seines Geschlechtstriebes.

Das eigentliche Ziel der Viagra-Einnahme besteht nämlich nicht (nur) – wie in wissenschaftlichen Veröffentlichungen durchgehend unterstellt wird – in der Wiederherstellung einer ausreichenden Erektionsfähigkeit. Die Erektion an sich dürfte der durchschnittliche Mann kaum als Endziel eines therapeutischen Vorgehens akzeptieren. Ziel ist vielmehr im Regelfall die Befriedigung des Geschlechtstriebes. Ob überhaupt und wie häufig dies angestrebt wird, ist vollständig in das individuelle Bedürfnis des einzelnen Mannes gestellt, was mit der Bezeichnung „Libido“ umschrieben wird, deren Ausprägung sich nicht einmal annäherungsweise in den sozialrechtlichen Kriterien „ausreichend, zweckmäßig, notwendig und wirtschaftlich“ erfassen läßt.

Exakt dieser Umstand gibt auch Anlaß, insbesondere in der Verfügbarkeit von einfach handhabbaren Mitteln zur Potenzsteigerung ein Mißbrauchspotential zu vermuten. Da das individuelle Bedürfnis im Sinne der Libido im Arzt-Patienten-Kontakt nicht objektivierbar ist, könnte im Fall einer Kostenübernahme etwa der Viagra-Medikation durch die Krankenkassen der Patient mit erektiler Dysfunktion den Anspruch auf die Viagra-Verordnung auch dann unkontrolliert geltend machen, wenn er aufgrund mangelnder Libido die Viagra-Tabletten gar nicht selbst einnehmen, sondern gegen eine gehörige „Unkostenentschädigung“ in den grauen Markt z.B. der Sport- und Fitneßstudios einschleusen möchte. Dabei dürfte noch nicht einmal das Alter des Betreffenden für die Verweigerung einer Viagra-Ausgabe berücksichtigt werden können. Wer würde denn festlegen wollen, daß z.B. ab einem Alter von 70 Jahren die Befriedigung des Geschlechtstriebs auf Chipkarte aus der Leistungspflicht der Krankenkassen ausgeschlossen wird?

Mißbrauch durch Viagra-Dealer

Daß der erwähnte „graue Markt“ des Viagra-Handels bereits existiert, kann keineswegs etwa einem „Verordnungs-Mißbrauch“ der Ärzte zur Last gelegt werden, sondern wäre vielmehr dem „Weitergabe-Mißbrauch“ potenzgestörter Patienten zuzuschreiben, die sich – ggf. unter zusätzlicher Ausnutzung des bekannten „Chipkarten-Tourismus“ – durch Angabe eines vom Arzt nicht kontrollierbaren sexuellen Verlangens hohe Viagra-Mengen verordnen lassen, um anschließend der Versuchung einer finanziell lohnenden Weitergabe der Viagra-Tabletten an Graumarkt-Kunden zu erliegen. Auf diese Weise würde die GKV allmählich in den Dunstkreis professioneller Dealer-Ringe kommen und zur Finanzierung der Profite aus einem illegalen Tablettenhandel beitragen.

Das äußerst hohe Interesse im Bereich des grauen Marktes stellt daher einen weiteren Beleg für das zu unterstellende Mißbrauchspotential potenzsteigernder Mittel dar. Es ist nämlich keineswegs so, daß die Viagra-Einnahme nur im Falle medizinisch unstrittiger Impotenz erfolgen würde; vielmehr ist auch nach den ersten Erfahrungen in den USA ein hohes Potential für den Viagra-Konsum in „Lifestyle-Indikationen“ zu vermuten. Hierzu zählen z.B.

  • die individuelle „Versagens-Prophylaxe“ bei im Grunde normaler Potenz oder
  • die Erzielung einer langdauernden Erektion für besondere sexuelle Praktiken.

Angesichts dieses bereits heute erkennbaren Konsumverhaltens ist es absolut berechtigt, von Viagra als einer „Lifestyle-Droge“ zu sprechen, zumal auch das vom Hersteller beanspruchte Therapieziel, also z.B. die Wiederherstellung der Erektionsfähigkeit eines potenzgestörten Typ-I-Diabetikers, eher einem „Lifestyle-Anliegen“ entsprechen dürfte als etwa die Vermeidung der Beinamputation durch korrekte medikamentöse Blutzucker-Einstellung desselben Diabetikers.

Hoher Preis belegt Lifestyle-Charakter

Auch der exorbitante Preis des einzelnen „Viagra-Schusses“, der nur mit der Unterordnung der Preisgestaltung unter das Ziel des maximalen „Shareholder-Value“ erklärbar ist, weist darauf hin, daß der eigentliche Markt von seiten des Herstellers nicht in der Krankenbehandlung, sondern in der individuellen Befriedigung des Sexualtriebes gesehen wird. Ein derart überzogener Preis wäre – auch ohne Konkurrenzprodukte – in der Krankenbehandlung kaum durchsetzbar, zumal die Entwicklungskosten dieses ursprünglich für die Behandlung von Herzkrankheiten vorgesehenen Arzneimittels als eher durchschnittlich zu werten sind und „Vermarktungskosten“ angesichts des seit Monaten anhaltenden, überwältigenden Medienechos praktisch überhaupt nicht anfallen.

Vor diesem Hintergrund ist auch die Absicht zu bewerten, die überteuerte Viagra-Medikation über eine „Indikationslösung“ in den GKV-Markt einzubringen. Allerdings stellt sich diese Indikationslösung aufgrund des unehrlichen Diskussionsansatzes selbst ein Bein: Warum sollte ein „primär impotenter“ Patient weniger Anspruch auf die Befriedigung seines Geschlechtstriebes haben als ein Patient mit „sekundärer Impotenz“ aufgrund z.B. einer Multiplen Sklerose oder eines Typ-I-Diabetes? Das „Indikationsangebot“ des Herstellers könnte daher eher ein Versuch sein, an das gesellschaftliche Mitgefühl mit Schwerkranken zu appellieren, um über die solidarische Finanzierung sexueller Triebbefriedigung möglichst hohe Gewinne aus solidarisch aufgebrachten Mitteln durchsetzen zu können.

Im übrigen trifft auch das Argument des Herstellers nicht zu, daß die Viagra-Medikation von der alten Formulierung in Nr. 17.1 f) der Arzneimittel-Richtlinien nicht berührt werde, wonach Arzneimittel zur Steigerung der sexuellen Potenz nicht zu Lasten der GKV verordnet werden dürfen. Wenn der Hersteller nämlich damit argumentiert, Viagra steigere nicht die sexuelle Potenz, sondern stelle vielmehr nur eine nicht vorhandene Potenz wieder her, so übersieht er dabei, daß der Begriff der sexuellen Potenz nach medizinischem Verständnis nicht im Sinne einer bestimmten quantitativen Ausprägung festgelegt ist, sondern lediglich eine Begriffshülse im Sinne eines Meßwertes darstellt. Dieser Meßwert kann auf einer Prozentskala die Werte von 0 bis 100 einnehmen, wobei z.B. eine Ausprägung von 0 Prozent Ausdruck einer vollständigen Impotenz ist. Die nach den Arzneimittel-Richtlinien von der GKV-Leistungspflicht ausgeschlossene „Steigerung der sexuellen Potenz“ betrifft danach sowohl z.B. eine Steigerung von 80 auf 100 Prozent als auch eine Steigerung von 0 auf 50 Prozent. Insoweit hätte es möglicherweise nicht einmal einer Änderung der Arzneimittel-Richtlinien bedurft, um Viagra und andere potenzsteigernde Mittel von der Verordnungsfähigkeit zu Lasten der GKV auszuschließen. Die Änderung der Richtlinien stellt dennoch eine begrüßenswerte Klarstellung seitens des Bundesausschusses dar, die zudem der Bundesminister für Gesundheit über den Weg des Beanstandungsrechts bezüglich der Richtlinien-Beschlüsse in die leistungsrechtliche Bewertung potenzsteigernder Mittel einbezogen hat.

„Spannende“ Fragen zur Indikationsstellung

Hinzu kommt, daß für den Fall der auch nur teilweisen Einräumung einer Erstattungsfähigkeit von Potenzmitteln auf GKV-Kosten die leistungsrechtlichen Fragen keineswegs mit der Formulierung eines Indikationskataloges erschöpft wären. Vielmehr würden sich die eigentlich „spannenden“ Fragen erst danach stellen:

  • Innerhalb welcher Altersgrenzen sollen die Krankenkassen zahlen? Was ist mit dem 16-jährigen querschnittsgelähmten Mopedfahrer? Wie sieht es mit dem alleinstehenden 70-jährigen Typ-I-Diabetiker aus?
  • Welche Frequenz ist „ausreichend, zweckmäßig, notwendig und wirtschaftlich“? Stellt das Luthersche Postulat von zweimal pro Woche einen akzeptablen Kompromiß oder doch eher eine inakzeptable Beschneidung individueller Selbstverwirklichung dar?
  • Wie wird der offensichtlich drohende Mißbrauch im Sinne einer Einspeisung solidarisch finanzierter Viagra-Medikation in den grauen Markt verhindert? Werden die Tabletten ggf. einzeln abgegeben?

Nicht weniger interessant dürfte die Frage sein, welche sexuellen Bedürfnisse aus solidarischen Mitteln finanziert werden dürfen. Darf eine solidarisch finanzierte Viagra-Pille von einem verheirateten Mann vor dem Bordell-Besuch eingenommen werden? Darf Viagra auch vorbestraften Sexualstraftätern zur Potenzsteigerung auf Kosten der Solidargemeinschaft verordnet werden?
Alle diese Fragen sollten in einer aufgeklärten Gesellschaft vom Grundsatz her keine Rolle spielen; ihre Beantwortung ist jedoch sogar zwingend notwendig, wenn für die Befriedigung des Geschlechtstriebes in nicht absehbarer Größenordnung solidarisch finanzierte Mittel aufgebracht werden sollen, die für notwendige, ggf. sogar lebensrettende Therapien an anderer Stelle plötzlich nicht mehr zur Verfügung stehen.

Prioritätensetzung notwendig

Es darf nämlich nicht übersehen werden, daß die Entscheidung des Bundesausschusses – weniger von der Begründung her als vielmehr in den Auswirkungen – einer ersten Form von Prioritätensetzung hinsichtlich der Ausgaben für Krankenbehandlung in einer finanziell begrenzten solidarischen Krankenversicherung gleichkommt. Allerdings zählt die Prioritätensetzung im Hinblick auf definierte Gesundheitsziele nicht zu den vordringlichen Aufgaben des Bundesausschusses, sondern sollte vielmehr einem gesellschaftlichen Diskussionsprozeß sowie der Letztentscheidung des Gesetzgebers vorbehalten bleiben.

Der Bundesausschuß hat daher letztlich auch eine wichtige Entscheidung für den Erhalt einer finanziell tragbaren solidarischen Krankenversicherung getroffen, der sich die Gesundheitspolitik bislang ebenso beharrlich entzogen hat wie die Sozialgerichtsbarkeit, welche die Leistungsansprüche von Versicherten niemals mit dem für den Erhalt des Sozialstaats bedeutsamen finanziellen Überleben einer gesetzlichen Krankenversicherung rückgekoppelt hat. Vor diesem Hintergrund hätte es fatale Auswirkungen auf den Erhalt des Gedankens einer solidarisch finanzierten Krankenversicherung, wenn die Sozialgerichte die nicht nur in der Sache wohlbegründete, sondern auch in ihren sozialpolitischen Auswirkungen begrüßenswerte Entscheidung des Bundesausschusses nachträglich zu Gunsten eines unbegrenzten Anspruches von Sozialversicherten auf universelle Bedürfnisbefriedigung aufheben würden.

Dies käme einer Demoralisierung des Solidargedankens gleich, da z.B. kaum noch freiwillig Versicherte in der GKV vorstellbar wären, die ihre überdurchschnittlich hohen Solidarbeiträge zur Finanzierung eines allgemeinen Anspruchs auf sexuelle Befriedigung zur Verfügung stellen wollen. Eine solidarische Krankenversicherung, die einem Typ-I-Diabetiker die Amputation von zwei Gliedern zumuten muß, weil die begrenzten Mittel bereits für die Erektionsfähigkeit des einen Gliedes verbraucht sind, hätte aufgehört zu existieren. Aus diesem Grunde kann die Entscheidung des Bundesausschusses auch nur eine vorläufige Lösung darstellen. Baldmöglichst sollte sich der Gesetzgeber mit dieser Frage beschäftigen und die Leistungen im Umfeld der Befriedigung des Sexualtriebes explizit aus dem Leistungsrecht der GKV ausschließen.

Verfasser
Dr. med. Lothar Krimmel

Quellenangabe
KRIMMEL, Dr. med. Lothar: Eine mutige und richtige Entscheidung: Der Bundesausschuß schließt Potenzmittel aus. In: Forum für Gesellschaftspolitik (Verlag Broll & Lehr, Bonn), Oktober 1998, S. 238-240.

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